Im Mai 1993 führte Hans Ferenz ein Interview mit Karl-Heinz Pahling für das DeutschlandRadio Berlin über seine Erlebnisse, Erfahrungen und Gedanken.
Gemeinsam fuhren sie nach Niemegk, wo sich Karl-Heinz Pahling noch einmal vor Ort an die Tage im Juni 1953 erinnert.
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Das Leben hat so seine Ecken und Kanten
Interview Karl-Heinz Pahling.mp3
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Karl-Heinz Pahling, Jahrgang 1926, Bauarbeiter bei der Reichsbahn. Streikführer am 17. Juni, Gefangener im Zuchthaus. Glücklich.
Das Leben hat so seine Ecken und Kanten - ein Satz, der zu ihm paßt und mir im Gedächtnis blieb, als wir neulich telefonierten um uns zu verabreden. Ein Stück aus seinem Leben wollte ich erfahren
und auch ein Stück Geschichte. Seine Geschichte.
Ferenz: Zum 17. Juni 1953, den er als junger Mann mit 26 Jahren erlebte und auch ein Stück mitprägte. Zusammen planten wir, nochmals die Orte
aufzusuchen, an denen sein Lebensweg einen drastischen Einschnitt erfuhr. Die Reise beginnt in der Nähe von Stendal, im heutigen Sachsen-Anhalt.
Ziel ist die Stadt Niemegk, zwei Autostunden entfernt im Land Brandenburg, unweit von Potsdam. Hier arbeitete Karl-Heinz Pahling 1953 bei der Reichsbahn Bauunion. Zusammen mit Kollegen seines
Bautrupps legte er Gleise für die geplante Ringbahn in Berlin. Und hier wurde er vor 40 Jahren am 17. Juni 1953 zum Streikführer gewählt.
Vor 40 Jahren. Seitdem war er nur noch einmal hier, aber auch das ist schon über 30 Jahre her. Nun ist er 66, sportlich, groß, breite Schultern, ein Mann wie ein Baum. Was ihn wohl bewegt - so
kurz vor Niemegk ? Was erwartet er nach all den Jahren?
Pahling: Na ja, ich weiß nicht, was uns jetzt in Niemegk erwartet, ob sich überhaupt jemand an den 17. Juni 1953 erinnert. Es sind ja nun fast 40 Jahre her, und es sind eigentlich
gemischte Gefühle, die ich so in mir habe. Aber da wir ja nichts Kriminelles gemacht haben, habe ich immer die Hoffnung, daß man sich da auch noch ein kleines bißchen dran erinnert und die
Menschen mich doch irgendwie wiedererkennen.
Ferenz: Ankunft in Niemegk. Früher hatte die Stadt ungefähr 5.000 Einwohner, gehörte zum Kreis Belzig. Unsere erste Station ist der Bahnhof am Stadtrand, ein altes, zweistöckiges
Gebäude, ein paar Gleise und - Ruhe.
"Hier war schon mal mehr los" meint Karl-Heinz Pahling und zeigt mir, wo damals neben dem Bahnhofsgebäude die Baubuden standen, in denen er mit seinen Kollegen lebte. Von hier aus wurden sie
täglich mit dem Bauzug zum Einsatzort gefahren. Hier war auch das heimliche Zentrum von Niemegk, liefen die Informationen zusammen.
Pahling: Auf den Bahnhof hier kamen auch viele Leute, die abends nach Hause kamen, die in Berlin oder auch in Potsdam gearbeitet haben und dann natürlich nähere Informationen hatten und
wo wir das dann auch gehört haben. Wir haben dann natürlich abends über diese Sache in Berlin, den Streik der Bauarbeiter, diskutiert und so weiter.
Das waren manchmal sehr heftige Diskussionen und am 17.( Juni) morgens sind wir dann hier mit einem Bauzug nach Haselhoff gefahren, wo derzeit unsere Arbeitsstelle war und haben dort dann
Arbeitsgeräte in Empfang nehmen wollen, Picken, Schippen und alles, was dazu benötigt wurde. Bloß es war keine rechte Lust, an die Arbeit ranzugehen, wie es sonst üblich war.
Es kam nochmal zur Diskussion und da war dann die allgemeine Meinung, uns mit den Bauarbeitern der damals Stalinallee solidarisch zu erklären und auch zu streiken. Das haben wir dann dort auf der
direkten Arbeitsstelle beschlossen und haben dann, der Bauzug, der uns transportiert hatte, der war schon zurückgefahren, unsere Arbeitsgeräte wieder verschlossen und uns dann auf den Marsch
gemacht nach Niemegk zum Hauptbetrieb, der hier in der Nähe war.
Das war ein behelfsmäßiger Barackenbau für diese Baustelle, wo die Verwaltung und das alles drin saß. Da sind wir hinmarschiert und viele Bürger aus Haselhoff hatten sich unserem
Demonstrationszug schon angeschlossen.
Das waren damals so die Schlagworte: Spitzbart, Bauch und Brille, sind nicht Volkes Wille. Wer die damalige Zeit kennt: Spitzbart war Ulbricht, Bauch war Pieck und Brille war Grothewohl. Die
wollten wir nicht mehr. Das waren die ersten - sagen wir mal - Schlagworte, die dann im Chor von den Demonstranten gesagt wurden.
Hier auf dem Gelände der Bauunion waren dann schon andere Arbeitsgruppen, die in anderen Bereichen eingesetzt waren an dieser Strecke. Die hatten sich dort schon versammelt und nachdem wir
dann kamen, wurde dann ein gemeinsames Streikprogramm ausgearbeitet, wo wir unsere Forderungspunkte den Sekretärinnen reingaben. Die haben das dann auf der Schreibmaschine abgetippt, andere
Möglichkeiten waren ja damals noch nicht da, mit Kopiergeräten und so, sonst hätten wir etliche mehr gehabt. Und das waren dann schon erstmal Flugblätter, die war auch verteilen konnten.
Und dann haben wir da auf dem Gelände beschlossen, zum Marktplatz in Niemegk zu marschieren und dort unsere Forderungen kundzutun. Ich war damit beauftragt, als gewählter Streikführer, dieses
eben zu tun.
Ferenz: Entschlossen steht er da und in seinem Gesicht spiegelt sich die Verantwortung, die er damals trug. Ich frage mich, wie man zum Streikführer gewählt wird, in einer
Situation, in der sich die Ereignisse zu überschlagen beginnen. Gab es eine Vorgeschichte? Und ob es die gab! Und unter die ernste Miene mischt sich Stolz.
Pahling: Zwei Dinge vor dem 17. Juni in dem Betrieb, wo ich gearbeitet habe, waren ausschlagegebend, daß mir viele Arbeitskollegen ihr Vertrauen geschenkt
haben. Die Betriebsleitung hat sich für unsere Arbeitsleistungen, also die wir produktiv gearbeitet haben, immense Prämien eingesteckt und dagegen habe ich moniert. Und ich habe das nicht einmal
gemacht, sondern ich habe das mindestens dreimal gemacht und beim vierten Mal sollten wir dann, die Produktivarbeiter, eine Prämie bekommen.
Nun ist es ja so, meistens macht man das ja so, dem größten Schreihals gibt man erstmal eine Prämie und dann ist der ruhig. Das habe ich denen aber gleich von vornherein gesagt: Gebt mit keine
Prämie, Ihr werdet etwas erleben, wo Ihr gar nicht dran denkt.
Man hat mir trotzdem eine Prämie gegeben, dann habe ich die Prämie in Empfang genommen und habe sie dem Parteisekretär des Betriebs in den Schoß geworfen und habe gesagt: (lacht
vergnügt) Damit du die Schnauze vollkriegst - hier hast du mein Geld.
Und dann ist der größte Teil der Belegschaft, so ca. 75 %, außer den Genossen et cetera, aufgestanden und hat den Versammlungsraum verlassen und ist nach Hause gefahren. Das war zum Wochenende.
Das war ein Eklat für diese ganze Situation.
Wir hatten auch Arbeiten, die sehr feucht waren. Wir mußten Vertiefungen für den Bahndamm machen. Das war alles Handarbeit, damals gab es noch keine Technik, Maschinen wie Bagger und soetwas. Da
stand man dann auf Halbschuhen und nach zwei Tagen hatte man dann die Sohle für sich und das Oberleder für sich. Es war nicht möglich von der Betriebsleitung aus, Gummistiefel zu besorgen.
Ich habe mich an einem Nachmittag nach Feierabend aufgemacht und bin nach Treuenbrietzen gefahren und habe da mal ein bißchen rumgefragt - das lag ja in der Nähe. Da hat man gesagt: Gummistiefel?
Wieviel willst du denn haben? Wieviele Größen? - Ich sagte: Größen kriegt ihr alles gesagt. Ihr habt Gummistiefel und wollt sie loswerden. - Jawoll. - Und die waren intakt, die Gummistiefel, das
waren neue Gummistiefel.
Da ist die Betriebsleitung da hingefahren, nachdem ich gesagt habe: Ihr werdet dort erwartet, da gibt es Gummistiefel für uns. Und da ist man dann hingefahren und hat die Gummistiefel geholt und
bei der nächsten Versammlung hat man dann gesagt: Ja! Es ist uns gelungen, mit vielen Mühen, für euch Arbeitsschutz-, also Gummistiefel zu holen. Die ganze Belegschaft hat die Betriebsleitung
ausgelacht und hat gesagt: Ihr habt doch die gar nicht besorgt, die hat unser Tom Brack besorgt (das war mein Spitzname damals). Die hat der besorgt und Ihr habt sie nur bezahlt. Und jetzt haben
wir welche und Ihr ward dazu nicht in der Lage.
Das waren natürlich Dinge, die waren von den Arbeitskollegen auch honoriert worden, indem sie eben Vertrauen zu mir hatten, weil ich mir nicht alles gefallen lassen habe bzw. auch immer
eingetreten bin für Gerechtigkeit, daß wenn der Arbeitslohn gestrichen wurde und die Arbeitsleistung da war, da wurde dann eben einfach die Lohntüte ein Stück kürzer gemacht, und es wurde etwas
gestrichen - auch dagegen habe ich moniert und habe damit auch immer Recht bekommen.
Wenn eine Arbeitsleistung vorlag und nach der entsprechenden Norm mußte das auch bezahlt werden. Da konnte man nicht vom grünen Tisch einfach einen Strich durchmachen und 200 Mark weniger geben.
Das gab's nicht, das haben wir durchgesetzt.
Ferenz: Normerhöhung - der eigentliche Auslöser für den Arbeiteraufstand am 17. Juni. Mehr leisten in kürzerer Zeit. Karl-Heinz Pahling erinnert mich an die Propgandabilder über die
SED-Vorzeigefrau Frieda Hockauf. Zum Wohle des Arbeiter- und Bauernstaates schuftete sie an 20 Webstühlen gleichzeitig. Wo nahm sie die Kraft her?
Die meisten Menschen in der noch jungen DDR konnten und wollten nicht mehr. Allen voran die Bauarbeiter aus der Berliner Stalinallee. Nach längeren Querelen beschlossen sie am 16. Juni, am
folgenden Tag zu streiken. Schlug der Mut und die Wut der Berliner Bauarbeiter auch Wellen bis Niemegk?
Pahling: Diese Normerhöhungen standen bei uns genauso zu Buche. Und für eine Normerhöhung gibt es ein Gesetz, das Arbeitsgesetz. Darin ist festgelegt, daß man sich mit dem Kollektiv oder
mit dem Arbeiter, mit dem man das vorhat, diese Norm zu erhöhen, also daß er in einer geringeren Zeit eine größere Arbeitsleistung bringt, in Verbindung setzt und ihm erklärt, was hier passiert
und was gemacht werden soll, nach Recht und Gesetz. Und danach kann man das nehmen. Aber bei uns hat man das so gemacht: Wir haben Schotter abgeladen für das Gleisbett, für die Schwellen. Da sind
sie Normer in das Bremserhäuschen eingestiegen und wollten da nun mitstoppen. Na, da flogen zwei, drei Brocken von dem Schotter an das Bremserhäuschen, nicht, um einen zu treffen, nur an das
Häuschen. Das hat weitaus genügt, daß die ihre Stoppuhr einpackten und das Weite suchten.
Das war für uns nicht das Problem. Das Problem war, und das war ja auch die Zielsetzung in unseren Streikparolen, die wir dann formuliert haben, daß die Zonengrenze wegkommt, daß freie Wahlen in
ganz Deutschland kommen, daß die Regierung sofort zurückzutreten hat wegen Unfähigkeit und daß die politischen Gefangenen sofort freigelassen werden. Das waren unsere Grundforderungen, die wir
hatten, und die Normen als solche waren bei uns im Prinzip eine Nebensache. In der Hauptsache ging es in Berlin um die Normen, aber es hat sich in Berlin dann doch schnell zu dem Thema
umgeschlagen, was wir hatten. Ja? Es ist nicht bei den Normen geblieben, sondern es ging um die Freiheit.
Ferenz: Sein Blick schweift über den Bahnhofsvorplatz. Vergangenes wird lebendig, In Gedanken, so scheint es, marschiert Karl-Heinz Pahling nochmals durch die Straßen der Stadt,
Hunderte mit ihm.
Doch wir - wir fahren mit dem Auto. Bequem über das alte, holprige Kopfsteinpflaster und halten an einem kleinen, rechteckigen Platz, der auf den ersten Blick an den Parkplatz eines Supermarktes
erinnert, auf dem ein Einkaufswagen verloren herumsteht.
Hier blieb die Zeit stehen, nur der Putz fiel von den Häusern. Und nur an der Stirnseite des Platzes, wo früher der Bäcker seine Backstube hatte, steht ein beinahe fertiger Neubau, weiß
gestrichener Kontrast. Daneben das Rathaus.
Pahling: Wir stehen jetzt hier auf dem Marktplatz von Niemegk. Hier stand der LKW, von dem ich zu den versammelten Niemegkern und so weiter, die unseren Protestzug durch die Stadt
Niemegk mitgemacht hatten und die sich dann hier versammelt hatten, (gesprochen habe). Hier haben wir unsere Forderungen der Bevölkerung nochmal zur Kenntnis gegeben und hatten auch volle
Zustimmung von den Versammelten.
Der Marktplatz war voll, da konnte man keine Stecknadel mehr fallen lassen, so eng war das. So war das hier auch der Ort, wo wir uns entschlossen haben, unsere Forderungen weiterzugeben - nicht
nur in diese Stadt Niemegk, sondern zur Kreisstadt nach Belzig. Und da haben wir uns hier entschlossen, daß wir nach Belzig gehen und für den Transport der Leute den Bauzug, womit wir zur Arbeit
hin- und hertransportiert wurden, zur Verfügung stellen. Es ging dann alles zum Bahnhof nach Niemegk.
Eine ganze Menge Leute waren das. Ich kann jetzt nicht mehr sagen, wieviele das waren, aber die hier auf dem Marktplatz waren, möchte ich sagen, sind zu 90 Prozent da mitgelaufen. Und aus den
umliegenden Dörfern, da hatte sich das ja auch wie ein Lauffeuer verbreitet, kamen die Leute natürlich auch und sind dann, weil sie wußten, daß wir nach Belzig noch gingen, zur Kreisstadt
Belzig gegangen.
Wir wurden dann dort auf dem Bahnhof Belzig schon von Einwohnern der Stadt Belzig empfangen. Ich muß dazu sagen - mit Musik empfangen! Ich muß sagen, das war doch erhebend, wieviel Leute uns
in Belzig schon erwarteten.
In Belzig ging es dann weiter zur zweiten Kundgebung mit den gleichen Forderungen, die wir dann abbrechen mußten, weil der Russe eben dann mit Panzern und so weiter dazwischen kam und auch
angefangen hat, dort erstmal in die Luft zu schießen und unsere Demonstration mit Waffengewalt zu sprengen.
Das ist ihnen aber in dem Sinne nicht gelungen, denn ich habe denen geantwortet, daß das eine Demonstration von deutschen Arbeitern ist und sie sich aus der Sache doch raushalten sollten, da sie
damit nichts zu tun haben. Und ich habe ja dann auch beim damaligen Rat des Kreises beim Ratsvorsitzenden gefordert, daß die Volkspolizei unsere Demonstration schützen sollte vor dem Eingreifen
der Russen, damit wir unsere friedliche Demonstration zu Ende bringen könnten. Das ist aber nicht erfolgt, das war klar.
Ich habe die Kundgebung dort beendet mit den Worten: Wir gehen friedlich nach Haus und streiken weiter, bis unsere Forderungen erfüllt sind. Damit sind die Leute dann auch friedlich nach Haus
gegangen und es kam auch zu keinen Ausschreitungen in keiner Form.
Man möchte sagen, die Leute, vom Gesichtsausdruck schon, irgendwie hatten sie leuchtende Augen. Es war irgendetwas, was sie befreit hat mit dieser ganzen Angelegenheit. Sie waren von irgendetwas
befreit und mir ging es genauso. Es war kein Gefühl der Rache oder daß man irgendjemand etwas tun wollte. Es war ein befreiendes Gefühl für viele Menschen in eben diesen kapp vier Jahre, wo diese
hier Regierung bestand. Es war ein befreiendes Gefühl, daß einer öffentlich das gesagt hat, was sie im Innern schon lange fühlten.
Ja, so war es auch 1989 genau das gleiche, daß viele Menschen doch - ich möchte nicht sagen fröhlich, aber irgendwie kam es aus dem Inneren und aus den Gesichtern - etwas loswurden oder etwas
formuliert wurde, was ihnen zu Herzen ging und was sie auch wollten. Keiner wollte diese Herrschaft länger ertragen und sie konnte ja auch nur weiter durch Waffengewalt praktiziert
werden.
Und ab dem Tag waren wir eben durch Waffengewalt zu unmündigen Bürgern bis 1989 degradiert worden.
Ferenz: Etwas bedrückt verlassen wir den Marktplatz von Niemegk, fahren quer durch die Stadt. Karl-Heinz Pahling weist den Weg. Zielsicher, als wäre er erst
gestern und nicht vor Jahrzehnten hier entlanggegangen, doch zunehemnd ruhiger.
Mit knappen Worten: An der alten Mühle nach links in die Poststraße. Holpernd biegen wir ein. Die Sonne knallt, es ist Mittag, kein Mensch zu sehen. Weit hinten an einem einzelnen Haus halten wir
an, steigen aus, gehen zum Gartentor. Hier wurde Karl-Heinz Pahling verhaftet.
Pahling: Ich bin am 17. Juni, nachdem wir in Belzig unsere Demonstration gemacht haben, von dem Schwager meiner Freundin, die ich hier hatte, nach Niemegk
zurückgebracht worden mit einem LKW. Man hat mir dann den Rat gegeben, weiterzufahren, nicht hier zu bleiben, nach Wittenberg. In Wittenberg war noch ein Onkel, der hatte da so ein kleines
Fuhrgeschäft. Dann bin ich mit dem Fahrrad von Niemegk nach Wittenberg gefahren und war da ein paar Tage zu Gast bei diesem Onkel. Und nachdem sich hier in Niemegk nicht groß was getan hat, kam
dann meine Freundin von Niemegk und hat mich abgeholt.
Aber schon in der Mühle ist ein Beobachtungsposten von der Staatssicherheit gewesen, der dieses ganze Gebiet observiert hat. Das habe ich aber nicht gewußt.
Am 25. Juni haben sie mich dann hier an diesem Ort, wo wir jetzt hier stehen, in der Poststraße 17, wo ich bei meiner Freundin Unterkunft gefunden hatte, verhaftet. Und ich möchte sagen, daß mir
fast noch die Worte im Gedächtnis sind, die ich gesagt habe, wo man mir die Handschellen angelegt hat: Mach's gut. Es wird 'ne Zeit dauern, bis ich wiederkomme.
Dieses ganze Haus, wie man ja jetzt hier auch sieht, war ja ein einzelnes kleines Gehöft. Das hatte man mit 2 Mannschafts-LKWs voll Polizei oder Staatssicherheit oder was das auch war,
eingekreist. Vier Herren kamen dann und haben mich hier, wo wir jetzt stehen, festgenommen. Das war dann mein letzter Augenblick in der Freiheit.
Im Grunde genommen war ich mir persönlich keiner Sache bewußt, daß ich irgendetwas Verkehrtes oder etwas Schlechtes getan habe. Das hat mich an und für sich nicht dazu animiert, einfach
abzuhauen. Die Möglichkeit hatte ich dazu. Ich hätte mich in Wittenberg in den Zug setzen können und wäre nach Berlin gefahren und - schwupp - wäre ich weg gewesen. Da hätte mich niemand
gekannt.
Aber ich war mir meiner Sache so sicher, daß ich kein Verbrechen begangen habe und ich keine Bestrafung zu erwarten habe. Daß es den Russen nicht angenehm war, wenn hier Leute auftreten und
gegen die Regierung sind, die sie, wie sie ja zugegeben haben, selbst eingesetzt haben, ist eine andere Frage. Aber das habe ich damals noch gar nicht so durchdacht. Ich habe mich völlig im Recht
gefühlt.
Und ich muß sagen, daß nach der Wende aus meinem Rehabilitierungsschreiben eindeutig hervorgeht, daß mir nach den Gesetzen oder nach der Verfassung dieses Staates, die sie sich selbst
gegeben haben, Streikfreiheit, Redefreiheit und Versammlungsfreiheit zugesichert waren - in der Verfassung. Das ist später geändert worden.
Mehr habe ich nicht getan. Ich habe nicht dauz aufgerufen, jemanden zu töten oder umzulegen, Gewalt auszuüben. Das war nicht unsere Sache. Das war nicht unsere Sache! Und deswegen habe ich mir
gesagt, ich habe niemandem unrecht getan, was will man von mir?
Ferenz: So richtig wurde das Karl-Heinz Pahling erst während den Verhören klar. Die Staatssicherheit suchte einen Buhmann, einen Schuldigen für die
Unruhen im offiziell doch so friedlichen Arbeiter- und Bauernstaat.
Karl-Heinz Pahling sollte zugeben - und am besten öffentlich -, für den amerikanischen Klassenfeind unterwegs zu sein, mit dem Auftrag, die noch junge Republik zu stürzen. Doch trotz Repressalien
und Schikanen blieb er bei der Wahrheit, blieb ehrlich vor sich selbst. Entsprechend das Urteil: 10 Jahre Zuchthaus Brandenburg. Nach siebeneinhalb Jahren wurde er entlassen.
Und während sich bei mir langsam Bewunderung einschlich über diesen aufrechten Charakter, plaudert Karl-Heinz Pahling bereits mit der neuen Bewohnerin des Hauses, die alsbald bei den
altansässigen Nachbarn klingelt.
Kurze Zeit später sitzen wir im Kreis alter Bekannter. Hier ungläubiges Erstaunen über diese unerwartete Erscheinung und dort glücklich weggewischte Freudentränen. Erinnerungen werden
ausgetauscht, aufgeregt Geschichten erzählt. Und unterm geblümten Sonnenschirm bei kalter Brause, Kartoffelsalat und Würstchen werden selbst die unmenschlichen Haftauflagen im Zuchthaus
Brandenburg ironisch und trotzig zum Triumpf geklärt.
Pahling: Ick hatte immer eine große Ehre, ick weeß nicht, wie ick dazu jekommen bin, ick hab mich nie jefühlt als großer Mann, ick jehör unters Volk .
(Karl-Heinz Pahling spricht hier glücklich lachend und weinend zugleich und wird dann gleich wieder wieder konzentriert und erregt. Seine Gastgeber mischen sich interessiert immer wieder in
das Gespräch. Karl-Heinz Pahling bleibt jetzt im Kreise der altbkannten Leute bei seinem berlinisch-altmärkischen Dialekt)
Pahling: Jeden 17. Juni: vierzehn Tage vorher konnte ich meine Sachen packen und es ging unter die Esse - bis 14 Tage nach dem 17. Juni. Jedes Jahr. Einzelhaft
unter der Esse. Das war der besondere Bau im Zuchthaus Brandeburg. Dieser große Schornstein da, darunter war das Ding.
Das war dann so: 3 Tage hat man trocken' Brot gekriegt, morgens so 'nen Becher Muckefuck und ein Stück Brot dazu. Und wenn man mir dann am dritten Tag eine Decke und eine Matratze geben wollte
und warmes Essen, dann habe ich gesagt: Könnt ihr vergessen, ich hab mich gerade dran gewöhnt. Behalten Sie das Zeug draußen. Ich habe die ganze Zeit auf der Pritsche weitergeschlafen.
Ferenz: Am späten Nachmittag fahren wir weiter. Verlassen Niemegk, wollen zurück nach Stendal, unsere letzte Station. Karl-Heinz Pahling strahlt vor Freude. Nein, das hätte er nicht erwartet. Man kennt ihn noch in Niemegk, nach 40 Jahren. Erinnert sich und freut sich mit ihm. Plaudernd vergeht die Rückfahrt.
Pahling: Und es war ein Sonnabend. Der 19. November 1960, da wurde ich aus der Haftanstalt Brandenburg entlassen. Es wurde immer zu zweit entlassen, im Abstand
von einer halben Stunde, damit man gar nicht irgendwie zusammenkam. Aber das ließ sich dann doch nicht vermeiden. Diese kleine Ortschaft Görden war nicht so groß, und jeder hatte nicht gleich den
Zug, mit dem er fahren konnte. Und in diesem anderen Gebäude, wo wir dann überführt wurden, habe ich dann durch Klopfsignale mitgekriegt, daß auch ein guter Freund von mir, der Herbt Schulz,
unter diesen war.
Wir hatten noch etwas Zeit, und wir sind als erstes zum Telegraphenamt gegangen und haben unsere Familien benachrichtigt durch ein Telegramm. Und dann haben wir uns erstmal gewundert, daß auf dem
Splitweg so Löcher drin waren. Wir haben gar nicht gewußt, was diese Löcher waren. So viele Leute können doch da gar nicht mit dem Spazierstock laufen. Wir haben dann nachher spitz gekriegt, daß
die Frauen so spitze Absätze, diese Pfennigabsätze, hatten.
Wir waren später dann in einem Geschäft drin und in der Post, und die Stimmen der Frauen erklangen für uns, für unsere Ohren so schrill. Wenn man siebeneinhalb Jahre keine Frau gehört hat, nur
Männerbässe und so, da haben sie uns ganz schrill in den Ohren geklungen.
Wir haben dann aber unser Telegramm aufgegeben und haben dann eine Bäckerei aufgesucht und haben uns dann jeder so ein Stück Torte gekauft und die haben wir dann auf einer Bank verzehrt. Es war
zwar nicht das beste Wetter, aber das haben wir dann in Ruhe gemacht und sind dann gemeinsam nach Rathenow gefahren. Mein Freund ist dann in Richtung Berlin-Rüdersdorf gefahren und ich bin in
Richtung Stendal gefahren.
Und dann waren wir nun erstmal zu Haus. Am Sonnabend bin ich nach Hause gekommen und ich hatte dann am Sonntag in Stendal, wo meine Eltern lebten und wo ich ja auch meinen Wohnsitz hatte, soviel
Besuch von Freunden und Bekannten, das war gar nicht zu schaffen. Ich habe mich nachher gar nicht mehr getraut, in die Stadt zu gehen. Jeder wollte etwas mit mir bereden. Das war so der Abschluß
dieser ganzen Haftzeit. Man mußte sich erstmal ein bißchen dran gewöhnen.
Ferenz: Es dämmert bereits, als wir in Stendal ankommen, auf den Dom zufahren. Wir parken am Domplatz, laufen unter alten Eichen bis in einen
Vorraum.
Hier endet unser gemeinsamer Tag und hier endet auch der Widerstand von Karl-Heinz Pahling gegen den sozialistischen Machtapparat. Widerstand, den er nach der Haftentlassung im Stillen und dann
1989 wieder öffentlich leistete, mitorganisierte. Hier im Dom von Stendal, mit dem ihn viel verbindet.
Pahling: Schon von Jugend an. Ich habe hier meine Konfirmandenstunde bekommen unter dem alten ehrwürdigen Superintendenten, Herrn Albers. Ich bin hier im Dom
konfirmiert worden, habe hier nach meiner Haftentlassung den Bund der Ehe geschlossen mit meiner jetzigen Frau. Das waren eigentlich so Stationen, die bei jedem Bürger normal sind.
Aber im Jahre 1989 wurde, nachdem die Räumlichkeiten in der Petri-Kirche zu klein wurden, die größte Kirche zum Friedensgebet genutzt - und das war eben unser alter Dom hier in Stendal. Und dann
kam eben dieser berühmte Tag. Bei uns waren diese Demonstrationen nicht am Montag wie in Leipzig oder auch in anderen Städten, sondern sie waren traditionsgemäß an einem Donnerstag.
Und hier wurde dann an einem Donnerstag von dem Domprobst, Herrn Schmidt, um dreiviertel 8 ungefähr mag es gewesen sein - um 8 Uhr sollte das Friedensgebet mit anschließendem Schweigemarsch
mit Kerzen durch die Stadt stattfinden - da wurde uns dann verkündet, daß die Grenzen offen sind. Und das war - möchte ich sagen - nicht mein Traum, es war immer meine Hoffnung gewesen und auch
mein Lebensinhalt, daß ich diesen Staat überlebe.
Vor lauter Freude habe ich das gar nicht wahrgenommen. Es war ja ein Donnerstag und kurz darauf kam das Wochenende, wo ja dann viele ihr Fahrzeug genommen haben und in den Westen gefahren sind.
Ich konnte das gar nicht wahrnehmen. Ich hab das erstmal zu Hause erlebt. Ich mußte das alles in mich aufnehmen und verkraften.
Wir wohnen an der B188, das ist Verbindungslandstraße von Berlin bis Hannover. Mich erfüllt es immer mit einer Riesenfreude, wenn ich die Kennzeichen der Autos sehe, die von Ost nach West und in
alle Richtungen fahren. Die kommen aus aller Herren Länder, die bei uns da durchfahren. Keiner wird kontrolliert und jeder kann dahinfahren, wohin er sein Reiseziel bestimmt hat.
Das ist heute immer noch für mich eine ... wie soll ich sagen. Wenn ich so still in meinem Auto sitze und alleine fahre, dann kommen vor Freude noch die Tränen... ja ..."
(Während der letzten Worte ringt Karl-Heinz Pahling um seine Fassung und beginnt dann doch zu weinen.)
Ferenz: Da steht er nun, ein Mann wie ein Baum, glücklich und weint. Er hat sein Stück Geschichte gelebt, mit Ecken und Kanten, aufrecht und berharrlich sein Ziel erreicht.
Pahling: Voll erreicht. Voll erreicht! Es hat sich gelohnt. Auf jeden Fall hat es sich gelohnt. Da gibt es keine Abstriche zu machen.
Es hat sich gelohnt, und ich weiß auch laut meiner Rehabilitierungsschrift vom Bezirksgericht Potsdam, daß ich mit dem, was ich 1953 als Streikführer gemacht habe, kein Gesetz dieses Staates
verletzt habe. Ich habe auch niemandem etwas zuleide getan, sondern ich habe nur meine Gedanken vorgetragen: die Zonengrenze weg, Absetzung der Regierung, freie Wahlen in ganz Deutschland und die
Freiheit aller politischen Häftlinge.
Das war unser Ziel, und das haben wir 1989 verwirklicht. Manche Dinge brauchen Zeit und man muß Geduld haben. Die Geduld hatten wir und und wir haben zum rechten Zeitpunkt das gemacht, was zu
machen war und was wir machen mußten: Damit hat sich das, was wir 1953 wollten, 1989 verwirklicht.
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