17. Juni 1953:

Volksaufstand in der ehemaligen DDR


Der Stasi auf Gedeih und Verderb ausgeliefert

Kontrollen, Verhöre, Schikane: K.-H. Pahling war Gefangener "Nr. 101" in Potsdam


 

Artikel von Karl-Heinz Pahling


Volksstimme vom 17. Juni 1992  

 


Als Untersuchungsgefangener 101 wurde ich in dieses Gefängnis geführt. Ich wurde von nun ab "Nummer 101" gerufen, mein Name existiert nicht mehr.

Ich muß dazu berichten, daß ich bis zum Erhalt meiner Anklageschrift nicht wußte, an welchem Ort ich mich befand. Eingeliefert wurde ich in dieses Staatssicherheitsgefängnis mit einer Augenbinde, die mir erst in der Zelle abgenommen wurde. Auf meiner Anklageschrift konnte ich dann lesen, daß ich mich in Potsdam befand.

 

Nachfragen bei den Wachleuten, die den Schlüsseldienst versahen, nach einem Rechtsanwalt lösten bei ihnen Lachsalven aus. Die Antwort war: "Du Schwein, weißt wohl nicht, wo Du bist?"

Meine Zelle war mit einem Gestell ausgestattet, das man als Pritsche bezeichnen kann. Diese Pritsche nahm ungefähr vom Fenster aus gesehen 2,5 Meter der Zellenlänge ein. Zum Stehen und Bewegen in der Zele waren dann noch zirka 2,5 Meter Platz. Das Zellenfenster war so mit Sichtblenden verkleidet, daß zwar Tageslicht reinkam, aber kein Blick zum Himmel freiblieb.

 

Die Nachtruhe war nur in Rückenlage erlaubt. Ein Abweichen von dieser Stellung hatte sofort ein lautes Klopfen an der Tür zufolge. Man durfte beim Liegen auch nie den Kopf verdecken, sofort kam eine Ermahnung des Aufsichtsbeamten, der alle paar Minuten durch den Türspion guckte. Eine starke Lampe, die Tag und Nacht brannte, schien mir beim Schlafen immer voll ins Gesicht und das wohlbemerkt bei angeordneter Rückenlage. Die Ausstattung der Schlafgelegenheit war die Holzpritsche ohne Matratze, ohne Bettbezug, meine Zudecke war meine Jacke.

 

Die Kontrolle wurde laufend, während der ganzen Zeit der Nachtruhe durchgeführt. Geweckt wurde man um 6 Uhr, die Nachtruhe begann um 22 Uhr. Während der Zeit zwischen 6 Uhr und 22 Uhr durfte man sich höchstens mal in aufrechter Stellung auf die Pritsche setzen. Fiel einem der Kopf wegen Übermüdung auf die Brust, ertönte sofort ein Pochen gegen die Tür. Man war 24 Stunden unter ständiger Beobachtung und Kontrolle, aber dennoch ganz einsam und allein.

 

Vernehmungen wurden grundsätzlich in der Zeit von 22 Uhr und 6 Uhr morgens durchgeführt. Sie dauerten stundenlang, und man kam erst kurz vor dem Wecken in seine Zelle zurück. Diese Prozedur mußte ich monatelang bis zum Erhalt meiner Anklageschrift ertragen.

 

Die Verpflegung bestand täglich aus 200 Gramm Brot, einem halben Liter Suppe (meistens aus Trockenkohl hergestellt) und einem Becher undefinierbarem Tee. Als Zugabe gab es hin und wieder ein Stück welke Gurke oder aber einen Harzer Käse. Ich habe erlebt, daß er vor Maden wimmelte.

 

Die hygienischen Zustände waren katastrophal. Alle 14 Tage war rasieren angesagt, und an diesem Tag konnte ich mir in dem Rasierwasser kurz das Gesicht waschen. Die Klinge in dem Rasierapparat war sicher schon von vielen Häftlingen benutzt worden, total stumpf. So war die ersehnte Rasur eher eine Qual als eine Wohltat. Im übrigen hatte ich dort weder Kamm noch Spiegel zur Verfügung. Aber einen Tag vor dem Prozeß durfte ich mich ordentlich rasieren und duschen.

 

Während meiner gesamten Haftzeit im Potsdamer Stasi-Gefängnis durfte ich nicht einmal eine

Freistunde genießen, ich habe mich nie an frischer Luft auf dem Gefängnishof aufhalten dürfen.

 

Meine Vernehmungen wurden abwechselnd von sowjetischen Offizieren und Offizieren der

Staatssicherheit geführt. Wenn ich diese höflich nach einem Rechtsanwalt fragte, erntete ich erneut Hohngelächter. Ich erwähnte es schon einmal, ich war diesen Leuten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

 

Meine Angehörigen durfte ich auch nicht benachrichtigen. Ich war für sie verschwunden. Keine

Dienststelle des SED-Unrechtsstaates gab meinen Eltern Auskunft über meinen Verbleib.

In der gesamten Zeit meiner Inhaftierung im Staatssicherheitsgefängnis in Potsdam habe ich keine anderen Gefangenen gesehen, gesprochen oder irgendwelche Kontakte zu ihnen gehabt.

 

Die Essensausgabe war sicherlich immer ein Vergnügen für die Stasi-Beamten. Das Tablett mit den Essensportionen wurde auf den Fußboden des Zellganges gestellt. Wenn die Tür aufgeschlossen wurde, mußte der Gefangene schnell raus aus der Zelle, sein Stück Brot, die Schüssel Suppe oder den Becher Tee schnappen und sofort blitzschnell wieder in der Zelle verschwinden, sonst konnte es vorkommen, daß ein Stasi-Beamter, der sich einen Meter weiter postiert hatte, den Schäferhund losließ und dieser auf den Gefangenen zusprang. Dieser Hund war so dressiert, daß er nur bis zur Zellentür kam. War man nicht schnell genug und der Hund erwischte einen, hatten die Aufseher ihren höllischen Spaß.

 

Abschließend will ich noch kurz über meinen Prozeß berichten. Ich wurde von vier Stasi-Beamten zum Bezirksgericht Potsdam gebracht, Auf der Treppe zum Sitzungssaal sprach mich ein Mann an und stellte sich als mein Verteidiger vor. Ein Mann, den ich vorher nie gesehen beziehungsweise gesprochen hatte, sollte mein Verteidiger sein! Meine Frage nach dem zu erwartenden Urteil beantwortete er mit dem Satz: "Wir wollen hoffen, daß es bei einer zweistelligen Zahl bleibt."

 

Der Strafsenat des Potsdamer Bezirksgerichtes unter Vorsitz des Oberrichters Wohlgethan und des Anklägers Staatsanwalt Neumann (im FDJ-Hemd!!) verurteilten mich zu zehn Jahren Zuchthaus nach der KD 38 und dem Gesetz zum Schutze des Friedens. Siebeneinhalb Jahre verbüßte ich davon im Zuchthaus Brandenburg.

 

Trotz dieser Strafe verlor ich nicht den Glauben an die Gerechtigkeit, an die Freiheit und an mein Vaterland. In meiner Heimatstadt Stendal ging ich im Herbst 1989 trotz der grausamen Erlebnisse und Erinnerungen wieder mit auf die Straße für eine andere, bessere Zukunft. Ich bin mir bewußt, daß, wenn die "Wende" nicht gekommen wäre, ich wohl kaum ein Wort über diese Zeit gesprochen oder geschrieben hätte.

 

Wie ich diese Zeit durchstanden habe, vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht half mir der Gedanke, daß ich niemandem ein Unrecht angetan habe.